Ketzer und Christ

Oder: Warum heutige Christen immer auch Ketzer sein sollen

Tag für Tag bin ich dankbar, dass wir heute frei heraus sagen können, wofür wir früher geächtet, gemartert, verbrannt worden wären! Dass die Erde ein Gestirn innerhalb vieler Sonnensysteme ist, dass Religionsfreiheit herrschen solle, dass Frauen und Männer gleichberechtigt sind und nicht die einen den anderen untertan sein sollen etc. etc.. – Man befindet sich in bester Gesellschaft, wenn man mit den großen Amtskirchen in Konflikt gerät: Meister Eckhart, Petrus Waldus, Franz von Assisi, Jan Hus, Giordano Bruno, Spinoza und weitere ungezählte „Ketzer“ hatten größte Not mit ihrer Kirche wegen ihrer Ansichten, die heute Allgemeingut geworden sind, – und Jesus selbst erginge es heute nicht anders! – Täglich danke ich, dass die Erde Menschen hervorgebracht hat, die unter Einsatz ihres Lebens eine Gesellschaft erkämpften, in der es uns heute besser geht als früheren Generationen: eine Gesellschaft, die als höchste Werte nennt die Menschenwürde, die Gleichberechtigung, Recht auf freie Meinungsäußerung, Recht auf Religions- und Gewissensfreiheit etc.

Unsere Privilegien wurden mühsam errungen und erkämpft. Als aufgeklärter Christ ist mir schmerzlich bewusst, dass das Christentum nicht nur die Botschaft von Befreiung und Erlösung predigte, sondern immer auch eine Rolle spielte in der Geschichte der Unterdrückung von Menschen durch Menschen. Mit diesen Thesen will ich darlegen, dass Christen immer auch Ketzer sein dürfen, ja sein sollen.

Wer ist ein Christ?
Als Christ bezeichnet man Menschen, die einer der vielen christlichen Gemeinschaften zugehören und in deren Lehren Orientierung für Leben und Lebenspraxis finden. Die Unterschiede zwischen den christlichen Kirchen und Gemeinschaften sind gewaltig, doch immerhin bekämpfen sie sich nicht mehr mit Feuer und Schwert. Einig sind sich die verschiedenen Gemeinschaften lediglich darin, dass von Jesus Christus wichtige Impulse ausgegangen sind zur richtigen Gottesliebe und Menschenliebe. Die erste Bekenntnisformel der ersten Christen war lediglich: Jesus ist Christus! Also: Jesus, der Mann aus Nazareth, ist der Messias! (Jesus, latinisierte Form von Jeschua hebr. aus Je Kurzform für Jahwe = Gott und schua = Hilf, Rettung, also Gott hilft, Gott rettet; Beiname christos = griech. der Gesalbte, die Übersetzung des hebräischen Wortes messiah = der von Gott gesandte und erhoffte Erlöser zur Rettung des Volkes Israel aus Knechtschaft und Sklaventum). Jesus wird in den ersten heiligen Schriften des Christentums als Messias und Gottes Sohn bezeichnet; doch wie die Gottessohnschaft interpretiert wird, darin gehen bereits in den ersten frühchristlichen Jahrzehnten und Jahrhunderten die Meinungen auseinander. Erst seit 325 n.Chr. gibt es ein erstes Dogma dazu, entwickelt von den Bischöfen auf dem Konzil von Nizäa und unter Vorsitz des Kaisers Konstantin. Es wollte die Meinungsstreitigkeiten per Machtwort beenden und eine einheitliche Religion für das Römerreich schaffen. Doch die Rechnung ging nicht auf. Ein Dogma gebar das nächste. Die Meinungsstreitigkeiten wurden nicht geringer. Es kam zu all den Spaltungen und Aufsplitterungen, unter denen das Christentum bis heute leidet. Die Mitglieder der einzelnen Kirchen haben dabei heute oft ein weiteres, reiferes, weiseres, ökumenischeres Verhältnis zu den anderen Gemeinschaften als die jeweiligen Obrigkeiten, die sich wegen theologischer Haarspaltereien befehden oder einfach vom Status quo profitieren.

Als Christ bezeichnen sich heute aber auch viele Menschen, die christliche Werte leben und pflegen wollen, unabhängig davon, ob sie einer der kirchlichen Institutionen angehören. In einer säkularen, aber weithin noch christlich geprägten Gesellschaft gibt es viele Menschen, denen es wichtig ist, sich weiterhin zu den Werten des Christentums zu bekennen, auch wenn sie nur distanziert oder überhaupt nicht Mitglied in einer christlichen Gemeinschaften sind. Der Ausdruck „ein guter Christ sein“ oder „gut christlich leben“ ist heute ein Synonym geworden für das Ja zu den Zehn Geboten der Bibel und dem bekannten Jesus-Wort: „Liebe Deinen Nächsten wie dich selbst.“

Wer ist ein Ketzer?
Das Wort Ketzer kommt aus dem Griechischen katharos und bedeutet „rein“ (deutlich erkennbar ist diese Bedeutung im Vornamen Katharina = die Reine). Als katharoi oder Katharer bezeichneten sich vor allem zwischen 1170 -1230 n.Chr. eine Bewegung von Christen, die zur reinen Lehre der Heiligen Schrift zurück wollten. Sie wollten das Christentum erneuern. Sie wurden zu Abtrünnigen, Ketzern und Häretikern erklärt. Im Wort Ketzer steckt also das Wort „katharos“ = rein. Das Wort „Häretiker“ kommt von hairesis = Wahl, Auswahl; es bedeutet, dass jemand nur einen Teil der offiziellen Lehre annimmt und einem anderen Teil die Zustimmung versagt. Die bekanntesten Gruppierungen waren die Katharer (gr. = die Reinen), die Waldenser (=Anhänger des Petrus Waldes aus Lyon) und die Albigenser (die Gruppe aus Albi). Sie wollten zurück zur reinen Lehre, zur Einfachheit und Besitzlosigkeit der Apostel. Sie bestritten, dass die Kirche weltlichen Besitz haben dürfe, weil ja auch Jesus Christus besitzlos war und als Wanderprediger nicht wusste, „wohin er sein Haupt legen kann.“ Die Kirche habe sich zu sehr von der Heiligen Schrift und von der Lehre des Jesus von Nazareth entfernt, und man wollte zurückkehren zu einem besseren, reineren Christentum. Ihr Anliegen war, das Christentum solle materiellem Reichtum entsagen. Sie forderten die Verkündigung des Evangeliums in der Volkssprache, die Übersetzung der Heiligen Schrift in die Volkssprache, die Befolgung der Bergpredigt. Konkret bedeutet dies, die Ablehnung des Eides, der Ablässe, der Todesstrafe, des Fegefeuers, der strengen patriarchalen Hierarchie der Kirche etc. Viele Forderungen sind uns heute selbstverständlich geworden. – Die Katharer wurden gnadenlos verfolgt. Das Wort Katharer wurde zum Hasswort, und es entwickelte sich im Deutschen zum Schimpfwort „Ketzer“. Auch heute noch hat das Wort einen meist negativen Beigeschmack. Es bezeichnet einen Menschen, der eine vom Mainstream abweichende Meinung vertritt, sei es religiös, politisch, wissenschaftlich oder künstlerisch. Mittlerweile wird aber auch das Wort „Ketzer“ augenzwinkernd und mit einem Schuss Lob und Wertschätzung gebraucht. Es beinhaltet die Anerkennung, dass jemand die Mehrheitsmeinung nicht teilt, sondern eine andere Position begründet entgegenstellt.

Jesus Christus als Ketzer
Jesus von Nazareth hat nie ein Dogma ausgesprochen. Ja, man könnte ihn mit den heutigen Maßstäben als Abweichler, Tabu- und Normenbrecher, ja sogar Ketzer bezeichnen. All die Aussagen „Ich aber sage Euch…“ sind im Grunde ein Bruch mit damaligen Dogmen, Normen und Gesetzen. Im Gesetz steht: Du sollst Deine Freunde lieben und deine Feinde hassen. Ich aber sage Euch: Ihr sollt auch Eure Feinde lieben… Im Gesetz steht: Ihr sollt bei Gott schwören. Ich aber sage Euch: Ihr sollt überhaupt nicht schwören. Euer Ja sei ein Ja, eurer Nein ein Nein. etc. Die Bergpredigt wirft alle Normen um, wie man bisher Glück und Erfolg zu erreichen versuchte. Jesus preist in der Bergpredigt die Armen selig, die Hungernden, die Dürstenden. Jesus hat ein ungesichertes Leben in Armut geführt. Er hatte nicht einmal einen festen Wohnsitz. Er legte sich an mit der politischen Macht, den Römern. Er hielt Gemeinschaft mit Ausgegrenzten wie Steuereintreibern, Sündern und Frauen von zweifelhaftem Ruf. Er berührte Kranke und Aussätzige. Er heilte am Sabbat. Er beschimpfte die religiöse Obrigkeit, die Schriftgelehrten und Pharisäer. Er warf die Tische der Händler, Geschäftemacher und Devotionalienhändler im Tempel um. Er brach Normen, Gesetze, Vorschriften. Er stellte den Geist höher als das Gesetz. Er hielt die Liebe wichtiger als alle kultischen Gebote. Deshalb wurde er zum Tod verurteilt, und deshalb lebt er heute noch als göttlicher Mensch weiter, trotz aller Verengungen und Verfälschungen…

Die ganz konkrete Folgerung lautet also: Wer Christ ist und in der Nachfolge von Jesus leben will, muss sich immer auch fragen: Wo sind heute die Normen, die Jesus durchbrechen würde im Namen eines gerechteren und friedlicheren Miteinanders und im Namen der Liebe?
P.H.