Jesus – Mystiker und Ketzer

Aufgeklärte Christen wissen: Die Bibel ist nicht wortwörtlich zu nehmen. Die Verfasser der Bibel benutzten die Sprache der Poesie, der Legendenerzählung, des Mythos, der Mystik.

Dies war ein legitimes Ausdrucksmittel dieser Zeit. Und wir wissen auch, dass viele „Worte Jesu“ erst spät „hinzu-erfunden“ wurden, als „Gemeinde-Theologie“, und in wohlmeinender Absicht.

Niemand musste zum Zeitpunkt der Verfasser diese Aussagen wörtlich nehmen. Genauso wenig wie man es wörtlich zu nehmen hatte, dass ein Pharao oder Alexander der Große „Söhne Gottes“ genannt wurden oder Herkules als der Sohn des Zeus.

Ein Irrweg war es, dass man im 4. Jahrhundert n.Chr., als das Christentum Staatsreligion wurde, Dogmen aufstellte und die Theologen späterer Jahrhunderte die mythologischen Symbole wörtlich verstanden wissen wollten.

Es ist ein großer Segen, dass man sich deswegen heute nicht mehr verurteilt oder verbrennt, sondern einfach sagen kann: ich sehe und interpretiere diese oder jene Glaubenssache anders als du, und das ist gut so…

Das Ja zu Pluralität gilt uneingeschränkt. Doch ich glaube, dass man Jesus von Nazareth näher kommen kann, wenn wir davon ausgehen, dass er ein Mensch war, der den Erfahrungen der Mystiker nahe stand.

Dazu klären wir zunächst, was Mystik ist. Dann können wir anhand einiger typischer Aussprüche, die man leicht erweitern könnte, überlegen, ob er eine innere Nähe zur Mystik gehabt haben könnte.


Mystik

Die äußeren Formen der Religionen sind Riten, Feste, Feiern, Lehre der Gründer etc.. Doch wer nur diese äußere Erscheinungsweise betrachtet, bleibt an der Oberfläche. Was ist die innere Triebfeder der Religionen? Als Motor der Religionen und der religiösen Menschen wird heute gesehen: die tiefe religiöse Erfahrung einzelner Menschen. Es ist das Gefühl, dass ein Mensch sich an einen höchsten Wert zutiefst gebunden weiß: an als heilig empfundene Orte, Personen, Schriften, an das Leben, die Natur, den Kosmos, an ein kosmisches Gesetz, an eine göttliche Kraft… Manche Menschen erfahren diese Verbundenheit besonders intensiv; sie sprechen dann oft von Erleuchtung, Wesensschau, religiöser Schau etc. Diese Erfahrungen werden verschieden erlebt und beschrieben, je nach Persönlichkeit und Kultur; die tiefen Gefühle und Erfahrungen werden oft „Mystik“ genannt, von griech. myein = die Augen/Lippen schließen. Mysterien waren in der Antike gefühlsgeladene religiöse Praktiken. Die Eingeweihten durften über das Erfahrene nicht sprechen, deswegen wissen wir nicht sehr viel darüber. Es gab stille und ekstatische Formen der Mysterien. Ekstatische Mysterien waren zum Beispiel die Mysterien des Dionysos und die Mysterien und auch die Orphischen Mysterien, eher stille Mysterien waren die Mysterien der Demeter in Eleusis. Es gab weiterhin die Mysterien des Adonis, des Attis und der Kybele, der Isis und des Mithras.

Das Wort Mystik ging vom Griechischen über auf andere europäische Sprachen. Im heutigen Sprachgebrauch ist „mystisch“ oft gleichbedeutend mit „geheimnisvoll“. Dies kommt daher, weil in die Teilnehmer der Mysterien über ihre Zusammenkünfte und Praktiken schweigen mussten. Die Erfahrungen gehörten also in den Bereich des Unaussprechlichen und Unaussprechbaren. Diese Zeiten sind allerdings vorbei. Heute gibt es zahlreiche Veröffentlichungen und Untersuchungen, ja Tests und Experimente zum Thema. Man versteht heute darunter Erfahrungen, die das normale Bewusstsein übersteigen und einmünden in außergewöhnliche Bewusstseinszustände. Diese Erfahrungen können begleitet sein von intensiven Sinneseindrücken, oder die Sinnes-Eindrücke können völlig aufhören, Raum- und Zeitempfinden sind aufgehoben. Dadurch tritt oft das Gefühl ein, dass die Individualität der Person aufgehoben sei. Die Grenzen des Ich werden aufgehoben, gesprengt. Diese Erfahrung der Entgrenzung kann einmünden in ein Gefühl des Eins-Seins mit allem, mit dem All, der Natur, dem Kosmos, dem Göttlichen, Gott.

Mystiker/innen aller Zeiten und Religionen haben davon berichtet. Mystiker haben dabei oft festgelegte Gebote, Lehren, Normen, Formen, Formeln, Dogmen, Worte und Bilder gesprengt und sind neue Wege gegangen. Dies ist ihnen oft genug auch zum Verhängnis geworden. Sie wurden aus ihren Glaubensgemeinschaften ausgestoßen, oft genug getötet. Die meisten Verfolgungen von Mystikern geschahen in dogmatisch geprägten Religionen wie im mittelalterlichen Christentum und im Islam. Die Liste von bekannten Namen von Mystikern ist unendlich. Früher hatten sie Verfolgung und Tod zu vergegenwärtigen, in heutiger Zeit Gott sei Dank nur Lehrverbot. Ich erwähne nur einige besonders bekannte Namen: Meister Eckart, Franz von Assisi, Giordano Bruno, Spinoza, Al Ghazzali, Ibn bin Rushd / Averroes, Ibn Sina Avicenna, Teilhard de Chardin, Albert Schweitzer, etc.


War Jesus ein Mystiker?

Wir wissen nicht genau, was Jesus wirklich gesagt hat und was ihm später in den Mund gelegt wurde von seinen Jüngern und Jüngersjüngern. Die Evangelien sind Glaubenszeugnisse, keine Geschichtswerke. Aber wir können viele Stellen neu bedenken, die von ihm gesagt wurden oder zumindest auf seinen Geist, seine Vision, seine Inspiration zurückgehen. Wir müssen auf jeden Fall wissen: Jesus selbst und die Evangelisten, vor allem Johannes, stammen aus einem Umfeld, das den mystischen Erfahrungen sehr zugetan war. Die Evangelien benutzen die Ausdrucksmöglichkeiten ihrer Zeit. Man nutze selbstverständlich die Sprache der Poesie, des Mythos und der Mystik.

Johannes 10,30: Ich und der Vater sind eins.

Ich finde es großartig, wie kurz und prägnant hier Jesus die Einheit von Mensch und Gott und Göttlichem ausgedrückt hat. Er fühlte sich offensichtlich so sehr identisch mit seinem Gott, dass er keinen Unterschied mehr machte zwischen sich und seinem Schöpfer. Und dieser war nun nicht mehr der jenseitige, strafende, rächende Gott der jüdischen Schöpfungslehre, den man nicht einmal beim Namen nennen durfte. Nein, es war bei Jesus ein liebender Vater. Ein liebendes Menschenherz fühlt sich aufgehoben, identisch, eins mit einem lieben, einem liebenden Gott.

Eigentlich möchte man jedem Menschen wünschen, dass er Gotteserfahrungen dieser Art macht. Ich glaube: Jesus von Nazareth ist uns auch in diesem Punkt voran gegangen. Tragisch ist, dass man aus diesem wunderbaren Wort später ab dem Jahr 325 Dogmen ableitete. Man legte das Wort als Wesensgleichheit aus. Ich denke, es ist ein folgenschweres Missverständnis. Ich stimme Goethe zu, der dazu sagte: “Jesus fühlte rein und dachte/ nur den Einen Gott im stillen;/ Wer ihn selbst zum Gotte machte, / Kränkte seinen heilgen Willen.”

Matthäus 25,40: Was ihr dem Geringsten meiner Brüder getan habt, das habt ihr mir getan.

Jesus sieht sich nicht nur als Bruder seiner jüdischen Volks- und Glaubensgemeinschaft. Nein, nicht nur seine Freunde und Jünger und die ihm Nahestehenden betrachtet er als Brüder, sondern er fühlt mit den Ausgestoßenen, den Entrechteten, den Unterprivilegierten, den Geringsten. Und wenn wir ihn recht verstehen, weist sein Blick auch in die Zukunft: Auch die, die in Zukunft entrechtet und gering sind, sind seine Brüder. Und wenn ihnen ein liebendes Herz hilft, das sich entzündet hat durch seine Lehre und durch sein Beispiel, dann nützt es allen: Dem Beschenkten, dem Schenker, und dem Geist des Schenkens, der sich auf diese Weise erfüllt, betätigt und bestätigt. Denn der Mystiker weiß sich eins mit allen. Ein Menschengeist, das sich eins sieht mit dem Geist des liebenden Tuns und der Güte, freut sich mit, fühlt sich innerlich verbunden mit dem Beschenkten, auch wenn der Beschenkte der geringste, der verlassenste, der geknechtetste aller Menschen ist, – denn gerade dann braucht ein Mensch die Hoffnung, dass es auch das Gute und die Barmherzigkeit gibt. Das Gute, das wir tun, nützt dem Ganzen. Es nützt allen Wesen. Wenn man es mit den Augen eines Mystikers sieht: den vergangenen, den gegenwärtigen und den zukünftigen Wesen.

Johannes 14,6: Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben.

So schön diese Textstelle sprachlich ist, so sehr bereitet sie mir aus philosophischer Sicht Schmerzen. Das Wort „Wahrheit“ lässt im Deutschen assoziieren: die eindeutige, unüberbietbare, die endgültige Wahrheit. Das Original im neuen Testament ist nicht so hochtrabend: Aletheia bedeutet Wahrheit, Echtheit, Authentizität, Aufrichtigkeit, Glaubwürdigkeit. Ich finde die Triade „Weg, Wahrheit, Leben“ sprachlich traumhaft gestaltet. Aber wir müssen wissen, dass es eine Übersetzung aus zweiter Hand ist. Die deutsche Übersetzung ist geprägt vom Lateinischen VIA VERITAS VITA. Im griechischen Original heißt es: ODOS ALETHEIA ZOE. Wie der Ausspruch auf Aramäisch aus Jesu Munde lautete, wenn er ihn überhaupt getan hat, wissen wir nicht. Wenn Jesus dieses anspruchsvolle Wort wirklich selber gesagt haben sollte, dann interpretiere ich es gerne in der Weise: Er hat seinen Weg gefunden, und er identifiziert sich völlig mit diesem Weg der Liebe und des Verzeihens. Und er lädt ein, diesen Weg der Liebe und des Verzeihens mit zu gehen. Er ist sich auch sicher, dass dieser Weg der wahre ist, sein wahrer Weg zumindest, seine Wahrheit.

Jeder weiß, wie sehr im Verlauf der Geschichte im Namen der Wahrheit gegen Nächstenliebe gefehlt worden ist. Auch im Namen von Jesus und Gott geschahen die schlimmsten Verbrechen. Dies muss uns zu besonderer Wachsamkeit mahnen. Deswegen zuckt jeder philosophisch und geschichtlich versierte Mensch zusammen, wenn jemand sich oder seine Lehre als die Wahrheit oder gar als die einzige Wahrheit preist. Aus der Geschichte haben wir gelernt. Und die Philosophie lehrt uns, dass wir Menschen sehr vorsichtig sein sollen mit dem hohen Anspruch der Wahrheit. Die letzte Wahrheit können wir Menschen nicht erkennen. Die Geschichte lehrt uns Bescheidenheit und Demut. Was ich aber diesem Wort sehr wohl auch als kritischer Philosoph und Theologe abgewinnen kann: Hier fühlt sich liebender menschlicher Geist ganz sicher auf seinem Weg, dem Weg des Lebens und des lebendigen Daseins mit anderen, dem Weg der Liebe. Und es drängt ihn dazu zu sagen, dass dieser Weg der für in richtige und wahre ist, und er lädt andere dazu ein, diesen Weg mit zu gehen.

Johannes 15,5: Ich bin der Weinstock, ihr seid die Reben.

Jesus von Nazareth spürte, dass seine Lehre auf fruchtbaren Boden fiel. Er merkte, dass seine Lehre Frucht bringt. So lässt sich dieser Ausspruch bestens deuten. Ich deute es nicht als Vormachtanspruch. Der Weinstock ist notwendig, um die Weinrebe hervorzubringen. Das Ziel ist die Frucht. Die Früchte sind das Entscheidende, und es der Ausspruch zeigt den vorweggenommenen Blick auf die Zukunft: Wort und Lehre werden Frucht bringen, und er darf sich als Nahrung, als notwendiges Glied zu dieser Frucht sehen. Jesus war sich wohl auch bewusst, dass auch künftige Generationen von seiner Lehre gespeist werden und angeregt werden zu fruchttragendem Leben.

Matthäus 26,26-29 und Markus 14, 22-25: Das ist mein Leib, das ist mein Blut.

Diese Worte werden Jesus zugeschrieben, als er zum letzten Mal mit seinen Jüngern beisammen sass. Es war ihm wohl bewusst, dass sein Leben zu Ende ging. Er wusste , dass seine Jünger in Zukunft ohne ihn, oder besser, ohne seine bisherige leibliche Gegenwart weiterleben mussten. In dieser Situation sagt er ihnen, dass er auch bei künftigen gemeinsamen Mahlzeiten immer besonders gegenwärtig sein wird. Und zwar durch Brot und Wein. Brot ist für einen mystisch veranlagten Menschen nicht einfach nur Nahrung, Wein nicht einfach nur ein besonderes Getränk. Beim Brot weitet sich sein Blick auf die lange Kette von Arbeitsgängen und damit verbundenen Mühen von Menschen. Das Getreide wird gesät, wächst heran, wird gehegt, gepflegt, gegossen, geerntet, gemahlen, verarbeitet, gebacken mit Hilfe von Brennholz, das wiederum gehackt, gesammelt, gefällt, gehegt, gepflanzt worden ist, das fertige Brot wird gehandelt, verkauft, gekauft, und immer sind Menschen dabei, von denen ein Stück ihres Lebens nun zu diesem Brot dazugehört. Ebenso ist es beim Wein. Die Reben werden angebaut, gegossen, gepflegt, gepflückt, gekeltert, aufbewahrt in Krügen, beim uns in Fässern, und hängt so wieder zusammen mit dem Ton, aus dem die Krüge sind und dem Holz, aus dem die Fässer sind. So vieles ist nun mit diesem Brot und diesem Wein verbunden. Bei jedem bewussten Genuss von Lebensmittel kann einem sensiblen Menschen bewusst werden, dass in diesem Leben alles zusammenhängt, dass eine innere Verbindung zu allem gegeben ist. Alles ist mit allem verflochten und verbunden.

Markus 1, 12-13: Und alsbald treibt ihn der Geist in die Wüste hinaus. Und er wurde in der Wüste 40 Tage vom Satan versucht, und er war bei den Tieren.

Wir wissen heute: Askese ist ein oft begangener Weg, um mystische Erfahrungen zu erreichen. Die anderen Wege durch bewusstseinsverändernde Substanzen wie Drogen, Pilze und Alkohol sind immer mit Gefahren verbunden. Die Praktiken der Fleischabtötung und des Verzichtes sind für die meisten Asketen ein Zeichen, dass man der Welt und ihren angenehmen Seiten entsagen will. Verzicht, Opfer und Askese sollen der sichtbare Ausdruck dafür sein, dass es einen noch viel wesentlicheren Bereich gibt als irdisches Wohlergehen und Wohlgefühl. Physiologisch gesehen aber sind asketische Übungen aber immer auch eine wirksame Unterstützung zur Änderung des Normalbewusstseins. Immer schon haben sich Menschen asketischen Prozeduren unterworfen und lange Meditationstechniken, Yoga und Fasten geübt, um zu tiefen Erkenntnissen zu gelangen, Man praktizierte Fasten, Geißelung, Sinnesabtötung, um dadurch zu höheren, mystischen Zuständen zu gelangen. Diese Übungen verändern die chemischen Zusammenhänge des Körpers. Physiologische Forschungen bestätigen: die Änderungen chemischer Vorgänge im Körper sind in großem Maße verantwortlich für die Veränderung des Bewusstseins, die auf solche Übungen folgt. Fasten bringt Vitamin und Zuckermangel mit sich, und dies beeinträchtigt die Arbeitsweise des Gehirns. Geißelungen setzten Histamin und Adrenalin frei. In den Wunden entstandene Toxine beeinflussen die Enzymsysteme des Gehirns. Die Folge ist eine leichtere Ablenkbarkeit von der Ebene der normalen Bewusstseinsebene. Gleiche Wirkungen haben längeres Fasten, Schlaflosigkeit und Überanstrengung, intensive Atemübungen, langanhaltendes Singen und Beten. Es kommt dadurch zu einer Vermehrung der Kohlensäure in der Lunge und im Blutkreislauf, sowie zu einer Verringerung des Blutzuckers. Vitaminmangel entfernt visionshemmende Nikotinsäure aus dem Blut. Chemische und neurochemische Vorgänge im Gehirn sind also untrennbar verbunden mit religiösen Erfahrungen. Jesus von Nazareth ging in die Wüste und fastete 40 Tage und Nächte lang. Die Folgerung, die wir daraus ableiten können, ist die: Er hat mit großer Wahrscheinlichkeit durch intensives Fasten Erfahrungen gemacht hat, die wir heute als bewusstseinserweiternde und mystische Erfahrungen bezeichnen.


War Jesus ein Mystiker und Ketzer?

Wer ist ein Ketzer? Das Thema wird bereits an anderer Stelle besprochen, deshalb nur das Wichtigste: Das Wort Ketzer kommt aus dem Griechischen katharos und bedeutet „rein“ (deutlich erkennbar ist diese Bedeutung im Vornamen Katharina = die Reine). Als katharoi oder Katharer bezeichneten sich vor allem zwischen 1170 – 1230 n.Chr. eine Bewegung von Christen, die zur reinen Lehre der Heiligen Schrift zurück wollten. Sie wollten das Christentum erneuern. Sie wurden zu Abtrünnigen, Ketzern und Häretikern erklärt. Im Wort Ketzer steckt also das Wort „katharos“ = rein. Das Wort „Häretiker“ kommt von hairesis = Wahl, Auswahl; es bedeutet, dass jemand nur einen Teil der offiziellen Lehre annimmt und einem anderen Teil die Zustimmung versagt. Die bekanntesten Gruppierungen waren die Katharer (griech. = die Reinen), die Waldenser ( = Anhänger des Petrus Waldes aus Lyon) und die Albigenser (die Gruppe aus Albi). Sie wollten zurück zur reinen Lehre, zur Einfachheit und Besitzlosigkeit der Apostel. Sie bestritten, dass die Kirche weltlichen Besitz haben dürfe, weil ja auch Jesus Christus besitzlos war und als Wanderprediger nicht wusste, „wohin er sein Haupt legen kann.“ Die Kirche habe sich zu sehr von der Heiligen Schrift und von der Lehre des Jesus von Nazareth entfernt, und man wollte zurückkehren zu einem besseren, reineren Christentum. Ihr Anliegen war, das Christentum solle materiellem Reichtum entsagen. Sie forderten die Verkündigung des Evangeliums in der Volkssprache, die Übersetzung der Heiligen Schrift in die Volkssprache, die Befolgung der Bergpredigt. Konkret bedeutet dies, die Ablehnung des Eides, der Ablässe, der Todesstrafe, des Fegefeuers, der strengen patriarchalen Hierarchie der Kirche etc. Viele Forderungen sind uns heute selbstverständlich geworden. Die Katharer wurden noch gnadenlos verfolgt. Das Wort Katharer wurde zum Hasswort, und es entwickelte sich im Deutschen zum Schimpfwort „Ketzer“. Auch heute noch hat das Wort einen meist negativen Beigeschmack. Es bezeichnet einen Menschen, der eine vom Mainstream abweichende Meinung vertritt, sei es religiös, politisch, wissenschaftlich oder künstlerisch. Mittlerweile wird aber auch das Wort „Ketzer“ augenzwinkernd und mit einem Schuss Lob und Wertschätzung gebraucht. Es beinhaltet die Anerkennung, dass jemand die Mehrheitsmeinung nicht teilt, sondern eine andere Position begründet entgegenstellt.

Jesus von Nazareth kann man mit den heutigen Maßstäben als Abweichler, Tabu- und Normenbrecher, ja sogar Ketzer bezeichnen. All die Aussagen „Ich aber sage Euch…“ sind im Grunde ein Bruch mit damaligen Dogmen, Normen und Gesetzen. Im Gesetz steht: Du sollst Deine Freunde lieben und deine Feinde hassen. Ich aber sage Euch: Ihr sollt auch Eure Feinde lieben… Im Gesetz steht: Ihr sollt bei Gott schwören. Ich aber sage Euch: Ihr sollt überhaupt nicht schwören. Euer Ja sei ein Ja, eurer Nein ein Nein. etc. Die Bergpredigt wirft alle Normen um, wie man bisher Glück und Erfolg zu erreichen versuchte. Jesus preist in der Bergpredigt die Armen selig, die Hungernden, die Dürstenden. Jesus hat ein ungesichertes Leben in Armut geführt. Er hatte nicht einmal einen festen Wohnsitz. Er legte sich an mit der politischen Macht, den Römern. Er hielt Gemeinschaft mit Ausgegrenzten wie Steuereintreibern, Sündern und Frauen von zweifelhaftem Ruf. Er berührte Kranke und Aussätzige. Er heilte am Sabbat. Er beschimpfte die religiöse Obrigkeit, die Schriftgelehrten und Pharisäer. Er warf die Tische der Händler, Geschäftemacher und Devotionalienhändler im Tempel um. Er brach Normen, Gesetze, Vorschriften. Er stellte den Geist höher als das Gesetz. Er hielt die Liebe wichtiger als alle kultischen Gebote. Deshalb wurde er zum Tod verurteilt, und deshalb lebt er heute noch in uns weiter, trotz aller Verengungen und Verfälschungen…

Wo ist die Brücke vom Ketzer zum Mystiker? Ich bin mir sicher, dass Jesus die Kraft zum Gesetzesbuch und Normenbruch bzw. die Kraft, sich im Namen der Liebe über geltende Normen zu erheben, aus seiner mystischen Erfahrung schöpfte: aus der innigen Verbundenheit mit dem Leben, seinen Menschenbrüdern und Gott, den er als seinen göttlichen und liebenden Vater bezeichnete, mit denen er sich „eins“ wusste.

Mystiker, Ketzer, Gottessohn, auch heute!

In diesem Sinne kann uns Jesus von Nazareth eine Orientierungshelfer sein, als mystisch fühlender Menschenbruder, als Gottessohn im Sinne von „Kind der universalen Kraft der Liebe, die wir Gott nennen“. So lebt er auch heute weiter in denen, die sich von ihm inspirieren lassen, und die in seinem Sinne „ticken“ (- so könnte man vielleicht heute auch etwas respektlos sagen, wenn man das das hehre Wort von der „Nachfolge“ etwas entkrampfen will… ), und die in diesem Sinne leben und handeln, auch wenn es der Welt als „Torheit“ erscheint. Dass große Menschen und ihre Aussagen immer auch um- und fehlinterpretiert wurden, ist der Lauf der Welt und die Tragik der menschlichen Geschichte. Das war auch bei Jesus der Fall, der verfälscht und dogmatisiert wurde. Doch müssen wir nicht immer weiter alten Irrtümern aufsitzen. Irrwege können korrigiert werden. Wenn wir uns im Bemühen um den richtigen Weg leiten lassen vom Geist der Liebe, des Respekts, der Toleranz, der Gerechtigkeit, auch „für den geringsten unter unseren Brüdern“, dann leben wir im Geist des großen Mannes von Nazareth, der alles war: Wanderpredigers, Mystiker, Ketzer, Menschensohn, Gottessohn, Bruder, Freund, und der so in vielen von uns auch heute noch lebendig ist.

P.H.