Christ sein ja, Dogma nein.

Kein Christ muss Dogmen fressen. Man kann sich als Christ definieren allein durch die ethische Orientierung an Jesus von Nazareth.

Die ersten christlichen Jahrhunderte kannten keine Dogmen. Wir brauchen sie auch heute nicht.

Albert Schweitzer (1875-1965), der große Theologe, Mediziner und Nobelpreisträger, plädierte für ein „dogmenfreies Christentum“.

Er formuliert es so:

„Die dogmenfreie Religion ist ethisch, beschränkt sich auf die ethischen Grundwahrheiten und bemüht sich, soweit es in ihrer Macht steht, mit dem Denken auf gutem Fuß zu bleiben. Sie hat den Wunsch, ein Stück vom Reiche Gottes in der Welt zu verwirklichen.“

Bis solche Ideen Allgemeingut werden, wird es noch einige Zeit dauern. Aber wir sind auf dem Weg dorthin. Die Basis ist bereits weiter als die Hierarchien.

Christ-sein ist für viele heutige Christen die gelebte Praxis. Es ist Tun und Handeln nach christlichen Grundsätzen und Wertmaßstäben, nicht das Glauben von Lehrsätzen.

Christ-sein bedeutet für viele das Ja zu ethischen Werten: Liebe, Gerechtigkeit, Solidarität mit Armen, mit Entrechteten, Bewahrung der Schöpfung etc. Es sind dies Werte und Werthaltungen, die man innerhalb des Christentums kennen gelernt hat.

Christ-sein ist für viele kulturelle Heimat und kulturelle Identität: Die geliebten Lieder, die vertrauten Gebete, die Gebete der Kindheit mit Eltern oder Großeltern oder in der Schule, die Gebete bei Feiern, die feierliche Hochzeit von Verwandten oder Freunden, die Trauerfeier und der Abschied von lieben Verstorbenen, die Gefühle beim Besuch im Gotteshaus, in der kleinen Dorfkirche oder im prächtigen Dom, die gute Gemeinschaft in der Jugendgruppe oder im Kirchenchor …

Christ-sein bedeutet nicht mehr, die eigene Religion als allein seligmachend zu sehen. Die meisten Christen mit guter Allgemeinbildung kennen das Christentum mit all seinen Höhen und Tiefen. Man sieht es als eine Religion, die immer auch von Menschen geformt wurde und deshalb immer auch fehleranfällig ist. Eine Religion, die viel Stationen und Wege gegangen ist: von einer kleinen Gruppe von einfachen Menschen, von Unterprivilegierten und Entrechteten, die ihren gekreuzigten Lehrer und Meister zum Messias und später zu Gottes Sohn und noch später zum Gott erhoben hat, hin zu einer machtvollen Institution, die Jahrhunderte lang selber andere verfolgte in Kreuzzügen und Inquisition , bis hin zu einer „kleinen Herde“ in einer säkularisierten Gesellschaft, in der sie zu einer Minderheit geworden ist, in sich selber oft zerstritten, – die aber immer noch mit überraschenden Ideen aufwartet zu wichtigen Fragen des Lebens und zur Werteorientierung: zu Fragen des Friedens, der Gewaltlosigkeit, der Gerechtigkeit, der ökologisch und sozialverträglichen Ressourcen-Verteilung, zum Schutz des ungeborenen Lebens, zum Schutz des sterbenden Lebens, zum Schutz des Sonntags etc.

Liebe, Gerechtigkeit, Solidarität, Bewahrung der Schöpfung etc., all diese Werte finden wir auch bei anderen Religionen und Weltanschauungen. Und was von informierten Christen auch verkraftet werden muss: diese Werte wurden oft genug vom Christentum selber mit Füßen getreten.

Humanismus und Aufklärung, in Verbindung mit mutigen christlichen Mit-und Vordenkern, haben mühsam in der westlichen Welt dafür gesorgt, dass sich das Christentum wieder seiner Wurzeln besinnen musste.

Viele ethisch fühlende Christen wollen deshalb ihr Christentum ohne konfessionelle und institutionelle Zwänge und Verengungen leben. Zu groß ist die Gefahr, wieder dogmatischen Irrwegen aufzusitzen.

Dogmatische und kirchenrechtliche Zwänge gab es in der ersten christlichen Gemeinde nicht. Es gab sie auch nicht in der zweiten und dritten und vierten Christengeneration. Sie entwickelten sich erst im 4. Jahrhundert nach Christus. Viele hochverehrten Zeugen der ersten drei christlichen Jahrhunderte würden heute von fundamentalistischen Christen als „Häretiker“ verurteilt werden. Im Mittelalter wären sie von den eigenen Glaubensbrüdern getötet worden.

Wir stehen heute fassungslos davor, wie verheerend und zerstörerisch die Dogmatik wirken konnte und das ursprüngliche Christentum bis zur Unkenntlichkeit deformieren konnte.

Die wunderbaren Früchte der christlichen Lehre, das Gebot der Liebe und der Feindesliebe, des Verzeihens und des unbedingten Angenommen-Seins im Kosmos durch einen liebenden Schöpfer, wurden von der Dogmatik oft genug zertrampelt. Die ersten christlichen Generationen dagegen waren vor allem inspiriert von dem Geist Jesu und seinem Beispiel. Und in den folgenden drei Jahrhunderten vom Beispiel jener, die sich von ihm leiten ließen.

Die Kriterien des Christseins waren Liebe, Hoffnung, gelebte Menschlichkeit, und der feste Glaube, dass der Tod nicht das letzte Wort ist, genährt durch die Lehre und das Beispiel von Jesus Christus. Alles andere war nachrangig. Es wird Zeit, dass diese Erkenntnis wieder wächst. Und es ist zu wünschen, dass sie nicht wieder unter Dogmatik erstickt.

Wer Dogmen braucht, möge sie behalten. Wem sie als Krücken des Glaubens helfen, wem sie Hilfe sind zum guten Tun, der möge an ihnen festhalten.. Wer ohne sie auskommt, kann sie ruhig in die Ecke stellen. Denn entscheidend sind sie nicht. Sie sind nicht einmal nötig.

Das DOGMA im religiösen Sinne ist eine sehr späte „Erfindung“ des Christentums. Das Wort DOGMA deutete auf Griechisch jahrhundertelang in vorchristlicher Zeit: Meinung, Beschluss, Verordnung, Befehl, Gebot. In der Philosophie bezeichnete man einen wichtigen Lehrsatz, im politischen Bereich einen obrigkeitlichen Befehl. Das Wort DOGMA erscheint beispielsweise in der Weihnachtsgeschichte. Dort heißt es: Es erging ein DOGMA, ein Befehl des Kaier Augustus, dass man sich einfinden solle seiner Heimatstadt zur Volkszählung.

Erst ab dem 4.Jh. n.Chr. wurde das Wort fast nur noch gebraucht im Sinne von Glaubensgebot, Glaubenssatz, Glaubenslehrsatz.

Der Hintergrund: Kaiser Konstantin hatte das vordem verfolgte Christentum zunächst straffrei gemacht im Toleranzedikt von Mailand, und später sah er noch größere Möglichkeiten für die neu heranwachsende religiöse Bewegung: Er sah in einem einheitlichen Christentum eine neue Chance für das zerfallende Römerreich. Er berief 325 n.Chr. das erste christliche Konzil nach Nikaia nahe Konstantinopel ein. Es fand statt unter seinem Vorsitz. Am Ende des Konzils mussten sich die Bischöfe und Theologen zusammenraufen zu einer Glaubensformulierung, dem später so genannten Nizänischen Glaubensbekenntnis. Denn die beiden damals prominentesten Theologen Athanasius und Arius stritten sich erbittert. Für Athansaius aus Alexandria war Jesus Christus Gott gleich, für Arius war Christus ein Mensch und deshalb selbstverständlich nicht Gott gleich. Die Lehre des Athanasius wurde als die richtige angenommen. Konstantin erließ nun den kaiserlichen Befehl, ein DOGMA, dass nunmehr einheitlich im ganzen Imperium Romanum dieses neue Glaubensbekenntnis zu gelten habe. Damit sollten die bisherigen Glaubensunterschiede ein Ende haben. Denn das Christentum hatte bis dahin bereits viele kontroverse Auffassungen und Interpretationen erfahren. Die Ursprungs-Apostel hatten ein anderes Bild von Jesus als der später dazugekommene Paulus, der ja Jesus nicht als Lebenden von Angesicht zu Angesicht kannte. Die judenchristlichen Gemeinden hatten andere Auffassungen als die so genannten heidenchristlichen Gemeinden. Und von denen wiederum hatte z.B. die Gemeinde im hellenistisch geprägten Alexandria wieder andere als die Gemeinden in Korinth oder Ephesus, die Gemeinde in Athen andere als in Rom, eine syrische andere als in Spanien oder Germanien. Die kontroversen Auffassungen wollte Konstantin durch ein Machtwort des Kaisers und des Konzils beheben.

Wir wissen heute, dass diese Rechnung nicht aufging. Bereits unter den Nachfolgern Konstantins, Constantius II, Valentinian I, Valens und Gratian wird die Lehre des Athanasius wieder verworfen und die Lehre des Arius verbindlich. – Die Wendung: Theodosius II verbietet im Edikt von Thessalonike 380 wiederum den Arianismus. 381 bestätigt das Konzil von Konstantinopel das Nizänum. Im Edikt von 391 verbietet Theodosius alle anderen Religionen und machte die Lehre des Athanasius zur Staatsreligion für das gesamte Reich.

Doch ein Dogma gebiert das nächste. Immer wieder werden Konzilien einberufen von späteren Kaisern und später von Päpsten, im Jahr 1123 zum ersten Mal in Rom. Immer wieder glaubt man, durch ein Dogma die richtige Lehre sichern zu können. Heute wären viele christliche Theologen froh, wenn sie sich nicht mit den Altlasten der Dogmatik herumquälen müssten…

Theologenstreit mündet in Religionskriegen. Auch früher gab es immer auch kluge und mutige Menschen, die der Obrigkeit widersprachen. Sie riskierten Leib und Leben. Als heutige Christen können wir Gott sei Dank frei heraus sagen: Der Weg der Dogmatik war der falsche. Aber: Wer die Geisteswelt der Antike und des Mittelalters kennt, weiß auch, dass es nicht böser Wille war, als die Menschen über den Weg von Dogmen die Wahrheit und das Heil suchten. Dieser Weg entsprang früherem Denken gegenüber metaphysischen Fragen: Begriffe, die dem menschlichen Geist entspringen, so meinte man, entspringen einem ewigen und wahren Reich der Ideen. Deshalb sind sie für wahr zu halten. Heute sehen wir es anders.

Heute stehen wir metaphysischen Fragen noch viel skeptischer gegenüber als früher. Ein kritischer moderner Mensch weiß: Der Mensch kann keine letzten Wahrheiten ausdrücken im Bereich der Metaphysik. Zudem lehrt uns die Geschichte: Dogmen und Dogmatismus sind gefährlich. Die Welt- und Religionsgeschichte zeigt uns, dass Dogmen geradewegs auf die Straße von Intoleranz, Krieg und Katastrophen führen. Wer dogmatisch denkt, versündigt sich am Geist. Wir haben unseren menschlichen Geist von der Schöpfung bekommen, und er hat sich in uns entwickelt. Wir können ihn als Geschenk Gottes betrachten. Wer seinen Geist ausschaltet und Obrigkeiten aus der Hand frisst, handelt nicht im Sinne dieses Geschenkes. Dogmatiker in Politik, Religion und Wissenschaften haben viel Schaden angerichtet. Wir dürfen, ja müssen unseren Geist einschalten. Dafür haben wir ihn bekommen!

Theologie widerspiegelt immer die Gesellschaft, ihre Realitäten, Hoffnungen und Visionen. Theologen gehören verschiedenen Gruppierungen und Kräften dieser Gesellschaft an. Sie denken, fühlen, interpretieren immer gemäß ihrer eigenen Erfahrungen, Gefühle, Ideen. Deshalb wird es immer auch verschiedene Theologien geben. Und sie werden sich immer auch widersprechen. Denn was der eine Theologe aus einem bestimmten Text der Heiligen Schriften seiner Religion herausliest oder interpretiert, wird ein anderer völlig anders sehen und interpretieren. Und beide berufen sich auf die gleiche Heilige Schrift. Immer ist neben dem Theologen auch der Mensch im Spiel, der von seiner Umwelt geformte und subjektiv empfindende Mensch. Eine letzte Wahrheit bezüglich letzter Fragen ist uns Menschen nicht möglich. Und auch bezüglich der ganz großen metaphysischen Frage nach Gott gilt: Deus semper maior. Diese Einsicht sollte uns Anlass geben zu intellektueller Bescheidenheit und zu höchster Vorsicht.

Christen sind heute meist kenntnisreicher, kritischer und urteilssicherer als früher. Viele gut informierte Christen spüren in der heutigen säkularen Gesellschaft sehr früh die Fragen: Warum bist du noch in einer Kirche, in der Schlimmes geschehen ist, in der, neben viel Gutem, immer auch Schlimmes geschieht? Je mehr man von der Geschichte und Kirchengeschichte weiß, umso drängender ist die Frage. Warum bist Du (noch) Christ? Warum gehörst Du (noch) einer bestimmten Kirche an?

Ich selber gehöre nach wie vor einer Kirche an, denn ich hoffe immer noch, dass sich manches, was mir missfällt, zum Guten wendet. Es ist immer noch die Hoffnung wach, dass sich das Negative eindämmen lässt, dass das Positive überwiegen möge; dass man für sich selbst und dass „die Welt“ letztlich eine positive Gesamtbilanz des gelebten Christentums ziehen kann. Daran gilt es zu arbeiten. Ich verstehe aber auch, wenn jemand diese Hoffnung aufgegeben hat, weil er enttäuschende Erfahrungen gemacht hat oder kirchliche Politik und Praxis nicht mehr mittragen kann.

Für Christen ist die Glaubensgemeinschaft jedoch nicht das gleiche wie ein x-beliebiger Verein. Sie ist mehr. Man tritt nicht so einfach aus wie aus einem Verein, mit dem man nicht mehr viel zu tun hat. Es gibt viele familiäre und gesellschaftliche Gründe, bei einer Glaubensgemeinschaft zu sein und zu bleiben, auch wenn einem nicht alles passt. Man kündigt nicht so leicht die Solidarität auf mit denen, die innerhalb der jeweiligen Gemeinschaft gute Arbeit leisten und Gutes tun.

Wenn jemand keiner religiösen Organisation angehören will, so braucht man sich aber deswegen nicht vom Christ-sein loszusagen. Eine Mitgliedschaft im Bund für freies Christentum für einen überschaubaren Beitrag kann demonstrieren, dass man sich der christlichen Wertegemeinschaft zugehörig fühlt, dass man sich dem Christentum und seinem spezifischen Ethos verbunden fühlt.

Dazu gehört aber auch, dass sich das Christentum in erster Linie als Religion der Liebe, der sozialen Gerechtigkeit und der Bewahrung der Schöpfung erweist, nicht als Religion der Dogmatiker und Fanatiker. Und es ist bereits viel geholfen, wenn jedermann feststellen kann: Es gibt heute viele Formen des Christentums, die sich nicht mehr wie früher bekriegen, sondern in Frieden koexistieren. Gott sei Dank!